Was für ein Gefühl, dieses Adrenalin, wenn man ganz allein in 20 m Höhe ohne Sicherung auf dem Drahtseil balancierte! Unten hielten knapp 2000 Menschen den Atem an und in der Manege war es so leise, dass man eine Stecknadel fallen hören konnte. Und dann der tosende Applaus aller Altersgruppen im Publikum als Belohnung! Das war das tägliche Brot eines Artisten. Dieser Beruf war einer der angesehensten in der DDR und auch einer der gefährlichsten, denn das Verletzungsrisiko war hoch. Hochkonzentriertes stundenlanges Wiederholen von Tritt, Schwung- und Fangbewegungen gehörten genauso zum Alltag, wie seine gewaschene Wäsche auf den gespannten Leinen zwischen den Zirkuswagen aufzuhängen oder stundenlang auf den kaputten Autobahnen des Landes zum nächsten Auftrittsort zu fahren. Die schönen Momente des Berufs – der Erfolg, die beliebten Auslandsgastspiele, Auftritte in Fernsehshows des DDR-Fernsehens und Preise auf internationalen Festivals – blieben den Artisten länger in Erinnerung als die oft schon in jungen Jahren schmerzhaft abgenutzten Gelenke oder die zahlreichen arbeitsbedingten Verletzungen. In der DDR waren Artisten fest angestellt.
„Assima komm her, gutes, feines Mädchen, Tigerin. Komm her… An Platz, so ist fein. Hopp, brav und komm her, brav fein…“
Rüdiger Probst, Zirkusdirektor und Familienoberhaupt des privaten Zirkus Probst, bei der Tigerdressur
Meistens bildeten die Zirkusfamilien ihren eigenen Nachwuchs aus, das ist Tradition in der Artistik. Besonders begabte Jugendliche, die keinen entsprechenden familiären Hintergrund hatten, wurden an einer Spezialschule ausgebildet. Das schließt nicht aus, dass auch Kinder aus Artistenfamilien diese Schule besuchten. Wer Artist werden wollte, musste wirklich außergewöhnlich sportlich und 14 Jahre alt sein. Dafür reichte ein Abschluss der 8. Klasse. Zu den Bewerbungsunterlagen gehörten ein amtsärztliches Attest, die Abschrift des Schulzeugnisses und die Einverständniserklärung der Eltern. Die Bewerber wurden von einer Fachkommission geprüft.
Zufall? Kinder üben akrobatische Bewegungen vor einem Plakat des privaten Zirkus Probst. Colditz bei Leipzig, DDR 1989.
Quelle: © Deutsche Fotothek / Gerhard Weber
Artisten arbeiteten im staatlichen Zirkusbetrieb der DDR, manche auch in einem der wenigen privaten Zirkusse des Landes. Außer unter der Zirkuskuppel turnten sie im Varieté, im Fernsehen, im Berliner Friedrichstadtpalast und natürlich auf zahlreichen Sommer- oder Stadtfesten sowie anderen öffentlichen Veranstaltungen im Land. Die Sommermonate waren die Hauptarbeitszeit. Artisten tourten durch das ganze Land, durch die sozialistischen „Bruderstaaten“ und – wenn es besonders gut lief – gastierten sie in Rom, Monte Carlo oder anderen exotischen Orten.
Im Winter stehen die Räder still. Wohnwagen des Staatszirkus der DDR, BEROLINA, im Winterquartier in Dahlwitz - Hoppegarten. Der Zirkus Berolina entwickelte sich bis 1989 zum modernsten Großzirkus der sozialistischen Ostblockstaaten. DDR 1978.
Quelle: © ddrbildarchiv / Manfred Uhlenhut
Die Ausbildung erfolgte an der „Staatlichen Artistenschule der DDR“ in Berlin-Mitte. Diese 1956 gegründete Spezialschule befand sich in unmittelbarer Nähe zum damals fest installierten Zirkus Barlay in der Friedrichstraße (der 1961 in Zirkus „Olympia“ und 1968 in Zirkus „Berolina“ umbenannt wurde) und zum Friedrichstadtpalast, dessen Räumlichkeiten ab 1981 auch für den praktischen Unterricht genutzt wurden, ebenso wie das Winterquartier des Staatszirkus in Berlin-Hoppegarten (damals übrigens das modernste in Europa).
Die Ausbildung dauerte vier Jahre. Nach der zweijährigen Grundausbildung mit Fächern wie Deutsch, Russisch, Englisch, Geschichte, Musik, Geschichte der Artistik, Anatomie und dem obligatorischen Marxismus-Leninismus erfolgte die zweijährige Spezialisierung für ein spezielles Genre, bspw. im Jonglieren, in der Tempoakrobatik, auf dem Drahtseil, am Trapez, auf dem Trampolin, in der Luft- und Hebeakrobatik, auf dem Schleuderbrett oder im Motorradkarussell. Da der Staatszirkus in seinem Programm häufig Truppendarbietungen anbot, wurden diese gezielt in schuleigenen Truppen trainiert.
Die reguläre Ausbildung erfolgte durch Fachlehrer für Artistik. Sie waren häufig ehemalige Absolventen, die nach ihrer aktiven Laufbahn an die Artistenschule zurückkehrten und die jüngeren Generationen ausbildeten.
Die Ausbildung wurde mit dem staatlich anerkannten Fachschulabschluss als Artist abgeschlossen. Bis zum Niedergang der DDR war allen Absolventen ein Arbeitsplatz beim VEB Zentral-Zirkus sicher. Aber nicht alle gingen ausschließlich dort hin. Manche fanden in einem privat geführten Zirkus eine Anstellung, andere arbeiteten freiberuflich.
Dompteure absolvierten eine zweijährige Ausbildung im Tierpark Berlin oder am Gestüt Zöthen, anschließend erfolgte eine Dressurausbildung in den Zirkussen.
Ähnlich wie in anderen künstlerischen Berufen, wie z.B. Musiker oder Schauspieler, war das qualitative Niveau der Darbietungen ausschlaggebend für den Erfolg eines Artisten oder eines Artistenensembles. Danach entschied sich auch, ob die Artisten zu Gastauftritten in westliche Länder ( z.B. zu Zirkusfestivals) reisen durften.
Seiltraining mit unsicherer Zukunft in der Artistenschule des Zirkus Busch im Sommer 1990 in Ost-Berlin. Zu dieser Zeit verlieren viele Artisten ihre Jobs durch Kündigungen. Die jahrzehntelangen Subventionen in den Staatszirkus gibt es nicht mehr und das Publikum strömt woandershin.
Quelle: © IMAGO / Detlev Konnerth
Nach Abschluss der Ausbildung erhielten die angehenden Artisten mit dem Abschlusszeugnis eine staatliche Auftrittsgenehmigung und je nach Qualifikation eine Anstellung im Staatszirkus der DDR. Der Staatszirkus war nicht nur ein künstlerisches Ensemble, sondern auch ein wichtiges Instrument der kulturellen Diplomatie. Der Standard der DDR-Artistik war von hohem Niveau, was dem Staatszirkus Einladungen in den gesamten Ostblock (alle anderen sozialistischen Länder plus China) und in westliche Länder verschaffte. Die Artisten wurden daher auch als kulturelle Botschafter betrachtet. So wurde z.B. beim 14. Internationalen Zirkusfestival in Monte Carlo das Akrobatenduo Majaro für seine anspruchsvollen Darbietungen mit dem Preis der Stadt ausgezeichnet.
Der Staatszirkus wurde seit 1950 subventioniert, denn Zirkus galt als Kunst und musste keinen Profit erzielen. Deshalb lagen die Eintrittspreise seit 1950 unverändert zwischen 2 und 7 Mark der DDR. Künstler, die seit 1972 für den Staatszirkus arbeiteten, waren festangestellt und hatten auch während der jährlichen Auftrittspausen im Winter ein regelmäßiges Einkommen. Die drei staatlichen Zirkusse Busch, Barlay/Berolina und Aeros wurden 1960 zum VEB Zentral-Zirkus zusammengeschlossen und unterstanden dem Kulturministerium. 1980 wurde dieser Betrieb in Staatszirkus der DDR umbenannt. Die Zirkusse teilten sich das Winterquartier in Berlin-Hoppegarten und die dort aufgebaute Manege für Trainings- und Probenarbeit. Auch Tierstallungen und Wagen für Unterkünfte standen dort zur Verfügung.
Tiere, die nicht aus den einheimischen Zoos stammten, mussten über einen Zoohandel in Hannover für Devisen importiert werden. Ein Elefant kostete zwischen 11.000 und 20.000 DDR-Mark, ein Eisbär im Jahr 1987 46.900 DDR-Mark.
Die drei Zirkusse, die zum Staatszirkus der DDR gehörten, hatten einen festen Tourneeplan, der aus der sogenannten Nordtour in der DDR, der Südtour und einer Auslandstournee bestand. Sie wechselten sich bei diesen Touren untereinander ab. Die Tourneen waren fast immer ausverkauft. Im Jahresdurchschnitt besuchten seit 1960 mehr als zwei Millionen DDR-Bürger die Vorstellungen von Busch, Aeros und Berolina (ehemals Barlay). Die Artisten und Dompteure wurden vom Staatszirkus, der seit 1972 „Agenturrecht“ besaß, auch ins Ausland vermittelt. Damit erwirtschafteten sie dem Staat wertvolle Devisen. Das verschaffte ihnen zwar kein extra Gehalt, jedoch Spesen in Höhe eines Tagessatzes zwischen 30 und 50 Westmark zusätzlich zum laufenden Einkommen.
Die Entlohnung von nicht fest angestellten Künstlern, die in der Unterhaltungskunst gegen Honorarzahlung tätig waren, war durch die „Anordnung über die Zahlung von Honoraren für Leistungen von Künstlern in der Unterhaltungskunst – Honorarordnung Unterhaltungskunst –“ geregelt. Danach betrug das Grundhonorar (Inhaber von Zulassungen) für Artisten 70 bis 120 Mark in der Solodarstellung, 105 bis 180 Mark als Duo. Das Leistungshonorar B, das „hohe künstlerische und kulturpolitische Leistungen“ voraussetzte, betrug für Einzeldarbietungen bei Artisten 140 bis 200 Mark, für Duos 210 bis 300 Mark. Das Leistungshonorar C regelte „außergewöhnliche Leistungen nach hohen internationalen Maßstäben“ und betrug für Soloartisten 220 bis 320 Mark, für Duos 330 bis 480 Mark. Für Darbietungen mit mehr als zwei Partnern wurde für jeden weiteren Partner ein Zuschlag von 40 Prozent gezahlt. Die Zulassung erfolgte durch die Bezirkskommission für Aus- und Weiterbildung, die Einstufung in die Leistungshonorare durch eine zentrale Kommission.
Die DDR war dafür bekannt, dass sie ihre Errungenschaften auf Briefmarken abbildete, um sie in der Welt zu verbreiten. Der Staatszirkus der DDR war auf kultureller Ebene ein wichtiges Exportgut in alle Welt.
Quelle: © DDR Museum
Die Treuhandanstalt war 1990 nach dem Zusammenbruch der DDR gegründet und mit der Aufgabe betreut worden, die Volkseigenen Betriebe nach den Grundsätzen des Kapitalismus zu privatisieren. Sie übernahm die Abwicklung und den Verkauf von ehemaligen DDR-Betrieben an Investoren und westdeutsche Unternehmen, darunter auch den Staatszirkus der DDR. Obwohl dieser ein staatlicher Kulturbetrieb war, wurde er als Wirtschaftsunternehmen eingestuft. Schon im Sommer 1990 wurden die ersten Artisten und Dompteure entlassen, denn das Publikum blieb aus. Nur noch wenige interessierten sich für die Vorstellungen der ostdeutschen Zirkusse. Deshalb fanden auch keine Westtourneen mehr statt. Die Privatisierung scheiterte jedoch und so wurde 1992 ein Liquidierungsverfahren eingeleitet. Von den privaten Zirkussen überdauerte nur der Zirkus Probst den Zusammenbruch der DDR.
Anders als der Staatszirkus überlebte die Fachschule für Artistik die ökonomische Transformation. Sie wurde 1992 in das Berliner Schulsystem eingegliedert und bildet heute gemeinsam mit der Staatlichen Ballettschule die „Staatliche Ballettschule Berlin und Schule für Artistik“.
Das Arbeitsumfeld für Artisten wird aufgebaut. Dieses Bild stammt aus dem Jahr 1992, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. Noch tourte Zirkus Berolina durch die neuen Bundesländer. Hier auf dem Hartmannplatz in Chemnitz, dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt.
Quelle: IMAGO / Härtel Press
Zirkus Probst – ein privater Betrieb zwischen all den Volkseigenen Betrieben
Neben dem Staatszirkus der DDR existierten mehrere Privatzirkusse in der DDR, die auch außerhalb der Ballungsgebiete Zirkuskunst anboten. Sie waren genauso beliebt wie der Staatszirkus, in den großen Städten der DDR durften sie jedoch nicht gastieren. Ein Problem war auch, dass Betriebe mit mehr als 10 Angestellten als eine PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks) verstaatlicht wurden. Die Verstaatlichung privater kleiner und mittelständischer Unternehmen erfolgte in mehreren Wellen. Zirkus Probst wurde deshalb gleich zweimal enteignet. Gegründet 1945 mit Sitz in Staßfurt, kam es 1953 zur ersten Enteignung. Rudolf Probst, Gründer und Direktor des Zirkus, wurde wegen Steuerhinterziehung eingesperrt, der Zirkus wurde beschlagnahmt. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis baute er seinen Zirkus wieder auf. Um den Schikanen in der DDR zu entgehen, tourte er mit diesem in den sozialistischen Nachbarländern. Doch 1972 wird er bei Einreise in die DDR wegen Zollvergehens (er brachte LKW-Reifen aus Ungarn mit) erneut verhaftet und musste für 2 Jahre ins Gefängnis. Die Löwen wurden erschossen und der Elefant kam in den Magdeburger Zoo. Nach seiner Freilassung wurden Probst und seine Familie mit ihren Tierdressuren beim polnischen Staatszirkus engagiert. Er blieb in Polen, bis er 1981 wieder eine Lizenz für die DDR erhielt. Probst konnte seinen Zirkus über die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen nach dem Zusammenbruch der DDR hinwegretten. Er ging nicht pleite, aber die Konkurrenz war und ist groß.
Es gibt übrigens auch in der BRD einen „Circus Probst“. Der wurde von einem Cousin des Zirkusdirektors Rudolf Probst gegründet. Die Teilung Deutschlands ging auch hier durch die Familie.
Um einer zweiten Enteignung zu entgehen, spielte der private Zirkus Probst von 1965–1972 in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Hier das Plakat zum 25jährigen Bestehen des Zirkus von 1970.
Quelle: © DDR Museum
Der Todeskuss
Eine der berühmtesten Darbietungen des Staatszirkus der DDR, die 1974 sogar mit dem „Zirkus-Oscar“ Spanien ausgezeichnet wurde, war der Todeskuss der Dresdner Dompteuse Ursula Böttcher und ihrer Eisbären. Die nur 1,58 m große Frau trat mit bis zu 10 Eisbären gleichzeitig auf. Der Höhepunkt der Show war die Fütterung mit einem Stück Fleisch von Mund zu Maul. Mit ihren Tierdressuren erlangten Ursula Böttcher und ihr Lebenspartner Manfred Horn Weltruhm und wurden zu unzähligen internationalen Gastspielen eingeladen. Ursula Böttcher wurde in der DDR mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Es gab sogar eine Briefmarke mit ihr und einem Eisbären. Ihr Mann wurde 1990 während einer Show von Kodiakbären angefallen, weil er stürzte. Er erlag seinen schweren Verletzungen.
Nach der Wiedervereinigung trat sie noch häufig mit ihren Eisbären im Berliner Spreepark auf. Es war ein trauriger Tag für Ursula Böttcher, als die Eisbären im Jahr 1999 im Rahmen der Auflösung der „Zirkusmasse“ auf verschiedene Zoos aufgeteilt wurden. Die Eisbärin Tosca kam in den Berliner Zoo und gebar dort das berühmte Eisbärenbaby Knut. Knut starb im Alter von 5 Jahren und steht heute ausgestopft im Naturkundemuseum Berlin.
Der weltberühmte Todeskuss zwischen Tiertrainerin Ursula Böttcher und einem Eisbären. Böttcher dressierte und zähmte ihre Bärengruppe mit 10 Eisbären selbst. Ihr Lieblingsbär für den Todeskuss-Trick war 23 Jahre bei ihr und hieß Alaska. DDR 1974.
Quelle: © IMAGO / ZUMA Press Wire
Doku die Bären von Ursula Bottcher - Training im Winterquartier‚ 87 - Nacht der Prominenten‚ 82, YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=5aNyQPK28qE
Ingo Hasselbach "Die Abrechnung" hier als Hörbuch